Autorin Jennifer Fortein

Jennifer Fortein wurde in den Neunzigern geboren und ist im Ruhrgebiet aufgewachsen. Ihre Bücher sind geprägt von düsterer Atmosphäre und kontroversen Denkanstößen. Ob sozialkritische Dystopie, verzwickter Thriller oder Romance-Story mit ungewöhnlichem Love Interest: Ihre Werke regen zum Nachdenken an und handeln von starken Frauen sowie dem Kampf gegen innere wie äußere Dämonen.

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Utopie Alpha - Band 2 < zu Band 1

Schicksal der Kriminellen

Cover Utopie Alpha Band 2

Veröffentlichungsdatum: 19.04.2024

Genre: Near-Future-Dystopie, Thriller

Alexia Kempner konnte Utopie Alpha, der Zone der Kriminellen, entfliehen. Dennoch gilt sie weiterhin als Straftäterin. Ihre ganze Hoffnung setzt sie in den kurzfristig einberufenen Arbeitskreis, der über die Zukunft von Utopie Alpha entscheiden soll.

Doch jeder im Komitee verfolgt eigene, widersprüchliche Ziele, wodurch ein Kompromiss zunehmend unmöglich scheint. Zudem wird Alexia in die Pläne der mächtigsten Menschen des Landes verwickelt, die das Ende von Utopie Alpha verhindern wollen. Als sie dabei dem Albtraum ihrer Vergangenheit begegnet, wird sie nicht nur mit heftigen Gewissenskonflikten, sondern auch mit ihrem unverarbeiteten Trauma konfrontiert.

Kann Utopie Alpha überhaupt noch aufgelöst werden? Welche Folgen hat ein System, das Menschen ohne Strafverfolgung oder Gerichtsverhandlungen verbannt und somit zum Tode verurteilt? Kann Alexia eines Tages das normale Leben führen, für das sie seit Jahren kämpft, oder wird sie auf ewig eine geächtete Kriminelle bleiben?

Leseprobe (enthält Spoiler für Band 1!)

[...] Als diese Ansammlung mit uns zwei Kriminellen und einem Haufen Utopieschützer dieses Mal immer weiter ins Innere von Utopie Gamma läuft, erhaschen wir sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf den belebteren Straßen. Vor und hinter uns sind Utopieschützer und auch Jayden und ich sind durch einen Utopieschützer voneinander getrennt. Was fast lächerlich wirkt, wenn man bedenkt, dass wir ohnehin gleich in demselben Sitzungssaal nebeneinander sitzen werden. Oder wird es auch da eine »Anstandsdame« geben?

Als wir uns dem Sitzungsgebäude nähern, erkenne ich schon aus der Ferne eine Menschentraube um den Eingang. Fotos werden geschossen, Aufnahmen mit Menschen mit Mikrofonen gemacht. Es wirkt zwar voll, aber ruhig – jedenfalls, bis die ersten von ihnen uns entdecken.

Sofort stürmen die Menschenmassen auf uns zu und für einen Moment bin ich tatsächlich beruhigt, dass Utopieschützer um uns herumstehen. Dennoch regt sich in mir Anspannung, als sie auf uns zurennen, immer schneller, als müssten sie sich gegenseitig ausbooten, als ginge es darum, wer uns als erstes erreicht.

Ein paar der Utopieschützer versammeln sich nun vor uns, während die ersten Reporter schon Namen und Sender schreien, dicht gefolgt von verschiedenen Fragen.

»Welche Vorschläge wollt ihr im Arbeitskreis unterbreiten?«

»Wie ist das Leben hier draußen?«

»Wo habt ihr beide euch kennengelernt und seid ihr ein Paar?«

Die meisten der Worte gehen im Einheitsbrei der vielen Stimmen unter, während wir nun angestrengter versuchen, weiter den Bürgersteig zu passieren. Doch eine Frage sticht aus der Masse hervor: »Alexia, findest du es fair, dass du nach Alpha gebracht wurdest, obwohl du das Opfer der Vergewaltigung warst?«

Ich zucke zusammen und versuche den Ursprung der Stimme zu verorten. Ich kann mich nicht erinnern, außer Jayden jemandem davon berichtet zu haben. Befand sich dieses Detail noch in den Aufzeichnungen? Gar so, dass Journalisten an die Infos kommen konnten?

»Lasst uns bitte vorbei. Das ist eine Behinderung der öffentlichen Ordnung«, wird der vorderste Utopieschützer nun lauter, durchdringender.

Als wäre das der letzte Warnschuss gewesen, verstummt die Menge plötzlich. Auch wenn sich die Menschentraube nicht gänzlich auflöst, treten die Menschen beiseite und eröffnen uns damit einen schmalen Gang, um an ihnen vorbei zum Gebäude zu gelangen.

Erneut flankiert von Utopieschützern versuchen einige Reporter immer noch, Aufnahmen und Fotos zu ergattern, auch Fragen schallen sie uns entgegen, jedoch gemäßigter als vorher. Weder Jayden noch ich reagieren darauf, auch wenn ich mich frage, ob es etwas bewirken könnte. Ohne die Macht der Öffentlichkeit ständen wir jetzt schließlich nicht hier. Doch die Utopieschützer würden uns vermutlich ohnehin nicht erlauben, nur eine Sekunde stehen zu bleiben, um uns den Journalisten zu widmen.

Zwischen den dicht beieinanderstehenden Menschen erreichen wir schließlich das hohe, dickwandige Gebäude, vor dem einige Fahrräder stehen. Ordentlich nebeneinander aufgereiht, unabgeschlossen. Für mich immer noch ein merkwürdiger Anblick, aber ich nehme an, hier ist das normal. Hier werden keine Fahrräder gestohlen. Denn auch dafür würde man nach Utopie Alpha kommen.

Einer der Utopieschützer vor uns öffnet schließlich die hohen Türen. Steinsäulen umrahmen den Eingang, im Inneren ist alles gefliest und kühle, abgestandene Luft tritt mir entgegen. Laut knallen die Türen hinter uns zu, ohne jedoch verschlossen zu werden. Dennoch wagt sich keiner der Journalisten ins Innere. Offenbar wurde es ihnen verboten und das ist schließlich vollkommen ausreichend.

Wir treten über den langen Flur, der mich eher an ein Gerichtsgebäude aus den Staaten erinnert, und die Schritte hallen an den Wänden wieder. Fast am Ende des Ganges bleiben wir vor einer Tür mit weißem Lack und quietschblauem Griff sehen, die gar nicht ins Bild zu passen scheint. Dahinter stoßen wir auf einen Saal mit Industrieteppich und weißen Tischen, die in einer Art Kreis aufgestellt sind, einige davon bereits mit Menschen besetzt, die uns bei unserem Eintreten mustern. Hohe Fenster zeigen nach draußen, aber dennoch herrscht dahinter Stille, kein einziger Journalist hat es hierher geschafft. Droht auch dafür eine Strafe? Doch warum überhaupt? Um uns zu schützen – oder sie?

»Nehmt hier Platz«, erklärt der Utopieschützer ruhig, aber bestimmt, und deutet auf zwei freie Tische nebeneinander. Jayden schreitet voran und lässt sich hinter den entfernteren Tisch fallen, während ich neben ihm Platz nehme. Noch während er darin einsackt, die Arme vor der Brust verkreuzt, zieht sich der Utopieschützer einen weiteren Stuhl heran und setzt sich zwischen uns.

»Ist nicht nötig«, raunt Jayden, ohne ihn anzusehen.

»Das entscheiden wir«, erklärt der Utopieschützer, während die anderen sich hinter uns aufstellen wie ein halbmondförmiger Schutzkreis einer dunklen Beschwörungsmagie.

Währenddessen wandert mein Blick durch den Raum, zu den vielen Menschen, die uns anstarren wie ein Weltwunder. Oder, eher, wie giftige, schleimspuckende Drachenmonster.

»Wirkt lächerlich«, fährt Jayden fort. Er wendet das Gesicht zu ihm herüber, die Augenbrauen gehoben. »Acht Typen? Ernsthaft?«

»Sieben Typen und eine Frau«, korrigiert jene hinter mir.

Jayden seufzt. »Nur, weil ich neben Alexia sitze, werden wir nicht das System sprengen.«

»Wahrscheinlich«, erwidert der Wachmann. »Aber wahrscheinlich reicht uns nicht. Wir wollen sichergehen.«

Jayden schnaubt, dreht sich dann jedoch wortlos wieder nach vorne. Nur aus dem Augenwinkel wirft er mir einen Blick zu, der sagt: »Tut mir leid, ich habe es versucht.«

In der Ferne tuscheln zwei Menschen, andere wenden sich ab und starren bedrückt den Tisch vor sich an. Sie haben Angst vor uns, empfinden Abscheu. Ich spüre es körperlich. Obwohl wir mitten zwischen ihnen sitzen, isolieren sie uns, als würden uns dicke Mauern umgeben. Wir sind die Aliens in diesem Raum. Niemand von ihnen verliert einen Ton an uns, aber dennoch lassen sie es uns deutlich spüren.

Meine Finger fahren zu meinem Armband. Ich habe schon Schlimmeres als das überlebt. Viel Schlimmeres. Ich muss bloß durchhalten.

Zum ersten Mal seit unserer Ankunft geht die Tür auf. Eine Frau verharrt im Türrahmen, ihr Blick wirkt militant, auch wenn ihre Kleidung eher an den typischen Businesslook erinnert. Mit gestrecktem Kinn begutachtet sie die Lage, aufrecht stehend, in einer Hand ihren PerTab haltend. Alles an ihr wirkt perfekt, als wäre sie ein Gemälde.

Dazu passend wirkt ihre Miene neutral, doch nicht emotionslos, sondern eher, als würde sie jeden Ausdruck zurückhalten. »Guten Morgen zusammen«, beginnt sie, als wären es die wohlüberlegtesten Worte, die ich heute zuhören bekomme. Dann lächelt sie, doch es wirkt unnatürlich, die Augen regen sich nicht. Wie das Lächeln einer Horrorfilm-Figur.

Ihr Blick bleibt an den Utopieschützern hinter Jayden und mir hängen. »Mit so vielen Utopieschützern können wir uns hier nur sicher fühlen, nicht wahr?«

Ich runzle die Stirn. Ihre Frage wirkt anklagend, als würde sie sich daran stören, dass all diese Wachmenschen da sind.

Ohne die Antwort einer der Uniformierten abzuwarten, wendet sie sich an uns. »Obwohl ich nicht der Meinung bin, dass es bei euch beiden nötig ist, Alexia und Jayden.«

Ich hebe den Kopf. Gehört sie zu der Art von Menschen, die sich bei jedem einschleimen muss?

Marschierend tritt sie in die Mitte des Tischkreises, faltet die Hände ineinander und mustert erneut jeden nacheinander. Ich bin überrascht, wie jemand noch mehr Präsenz ausstrahlen kann als Struwe. »Wir werden noch eine Einführungsrunde veranstalten, aber ich möchte mich gerne vorab schon vorstellen. Mein Name ist Li-Ming Tao und ich werde diesen Arbeitskreis leiten.«

Einige raunen ein unverständliches »Hallo« in den Raum, die anderen bleiben still. Auch ich schweige, was mir unverschämt lapidar für ihren Auftritt vorkommt, aber ich kann mich dennoch nicht zu mehr durchringen. Mein Blick schweift zu Jayden, der immer noch in verschränkter, eingesackter Haltung auf dem Stuhl sitzt wie ein gelangweiltes Kind im Matheunterricht. Wie kann er sich so gar keine Sorgen um unseren Auftritt machen? Glaubt er tatsächlich, wir wären hier sicher? Oder ist es ihm schlicht egal?

Erneut huscht das Horrorfilm-Lächeln über Li-Mings Gesicht, ehe sie an dem Tisch Vorkopf des Ausgangs Platz nimmt, geradezu geschaffen für die Vorsitzende. Dann konzentriert sie ihren Blick auf mich. »Ich finde es wirklich sehr spannend, euch beide kennenzulernen.«

»Wieso?«, fragt Jayden rau. Endlich richtet er sich im Stuhl auf und löst seine Arme, jedoch bloß, um sich bedrohlich nach vorne zu richten.

Doch Li-Ming scheint nicht davon beeindruckt zu sein. »Ihr seid schon jetzt eine wahre Berühmtheit. Außerdem bekommt man nicht oft die Möglichkeit, mit Menschen aus Utopie Alpha zu sprechen.«

Es überrascht mich, dass sie nicht geradeheraus von uns als Kriminellen spricht, sondern uns so neutral umschreibt. Diese Redegewandtheit kann kein Zufall sein. Ob sie Politikerin ist?

Doch ehe wir dazu kommen, das angespannte Gespräch fortzuführen, geht die Tür ein weiteres Mal auf. Der Mann strahlt eine aufgeregte Nervosität aus und scheint mit nur einem Blick sofort die ganze Truppe zu erfassen. »Einen wunderschönen guten Morgen, Khaled mein Name«, wirft er mit einem Sonnenschein-Lächeln in die Runde und wedelt in offener Geste mit dem PerTab in seiner Hand herum, als würde er eine Verbeugung vorbereiten. Dann steuert er auf einen der wenigen, verbleibenden, freien Plätze zu.

Khaled starrt uns kurz an, dann lacht er nervös auf. »Ich würde ja fragen, ob ich hier richtig bin, aber euch beide erkennt man sofort. Ihr seht wirklich genauso aus wie im Fernsehen!«

Jayden hebt einen Mundwinkel. »Meinst du die Nachrichten oder die Fahndungsmeldung?«

Khaled schluckt sein Lachen herunter und ich würde Jayden am liebsten für seine Äußerung boxen. Er scheint immer noch nicht zu verstehen, dass all das hier kein Spaß ist, keine weitere Gelegenheit für ihn, sich zu profilieren, oder was auch immer er versucht. Er benimmt sich kindisch und unvernünftig und ich wünschte, ich könnte ihn dazu bringen, seine Bemerkungen für sich zu behalten. Es ist ein Wunder, dass uns bisher noch niemand offen feindselig begegnet ist, doch mit seiner Macho-Tour riskiert er alles.

Noch ehe ich dazwischen gehen kann, erwidert Khaled: »Beides, ehrlich gesagt. War echt extrem, was da über euch in den News berichtet wurde.« Er lehnt sich nach vorne, sein Blick voller aufrichtiger Neugierde. »Stimmt das denn? Also habt ihr wirklich den Präsidenten gekidnappt?«

»Nein«, knurrt Jayden, die erste Reaktion von ihm, die mich beruhigt. Doch dann setzt er nach: »Haben’s nur ’ne Weile versucht.«

Khaleds Kinnlade klappt ein Stück herunter, also beeile ich mich nachzusetzen: »Wir wollten ihm nichts tun.«

»Schade«, entgegnet Khaled postwendend, ehe er sich schockiert die Hände auf den Mund legt. »Ich meine, natürlich ist das gut. Ich finde kriminelle Motive nur so unglaublich … spannend.« Er senkt die Hände wieder. »Also, solltet ihr mal zwischendurch Zeit haben, mir ein paar Fragen zu beantworten …«

»Haben sie nicht«, unterbricht ihn der Utopieschützer zwischen Jayden und mir.

Khaled zuckt zurück. »Natürlich. Entschuldigung.« Für einen Moment tritt Stille ein, kaum eine Sekunde, ehe Khaled die Situation schon nicht mehr zu ertragen scheint. »Haben denn alle gut hierher gefunden?«

»Der Bus hält vor der Haustür«, entgegnet jemand aus der Menge.

Doch obwohl ich ahne, dass Li-Ming in ihrem Aufzug weder öffentliche Verkehrsmittel noch ein Fahrrad verwendet hat, schweigt sie auf die Frage hin.

Nervös reibt sich Khaled mit den Händen über die Oberschenkel, durch den dazwischen stehenden Tisch kaum erkennbar. »Gibt es hier eigentlich auch Kaffee?«

»Es gibt einen Automaten auf dem Flur«, erklärt Li-Ming, allmählich mit einem so warnenden Unterton, dass ich weitere Rückfragen vermeiden würde.

»Echten Kaffee?«, hakt Jayden jedoch nach. »Mit Koffein?«

Li-Ming mustert ihn, als hätte er sie nach ihrem letzten Mord befragt. »Natürlich nicht.«

Jayden lehnt sich erneut im Stuhl zurück. »Hab’ ich befürchtet.«

Sie seufzt und fährt dann mit dem Zeigefinger und ihrem langen Fingernagel daran über das PerTab. »Unser letzter Teilnehmer ist offensichtlich zu spät«, stellt sie mit gereiztem Unterton fest. Dann setzt sie flüsternd nach: »Wir haben alle auch andere Verpflichtungen.«

»Er kommt bestimmt noch«, erwidert Khaled, als wäre das nicht selbstverständlich. »Oder sie, ich weiß das ja gar nicht.«

»Es ist ein er«, erklärt Li-Ming ruhig, jedoch ohne wieder den Blick zu heben. »Um ehrlich zu sein, die einzige Partei, von der ich Pünktlichkeit erwartet hatte.«

Ich schlucke meine Neugier herunter. Jedes falsche Wort ist gefährlich. Es gibt fast ein Dutzend Zeugen, die uns bei jeder falschen Regung beobachten, und uns sofort wieder nach Utopie Alpha bringen können.

Stattdessen starre ich den Tisch vor mir an. Wir werden das schaffen. Dieser Arbeitskreis wird zu einer Lösung kommen. Am Ende der Woche werden wir einen Plan haben, wie wir Utopie Alpha auflösen. Genau dafür sitzen wir doch hier, oder?

»Wie war sonst euer Tag bisher?«, setzt Khaled erneut an und reibt sich die Hände. »Also ich …«

Das Knirschen der Klinke lässt Li-Ming erleichtert aufatmen. Sofort heben wir alle die Köpfe, froh darüber, dass das fehlende Mitglied endlich auftaucht, dass wir nun starten können. Doch als ich die Gestalt im Eingang erkenne, schnürt es mir augenblicklich die Kehle zu. Ich greife nach meinem Hals, als könnte ich so den Widerstand darum entfernen, trete vollkommen weg, alles verschwimmt, und doch sehe ich diesen einen Mann ganz klar vor mir, als würde alles um ihn herum in eine Illusion verschwimmen.

»Ich hoffe, ihr musstet nicht zu lange auf mich warten«, hallt die raue Stimme durch den Raum, die mich schon immer an das Gefühl erinnert hat, wenn man mit einem stumpfen Messer über die Unterseite von Leder fährt. Er hebt kurz die Hand, ehe er sich auf den verbleibenden Platz direkt gegenüber von mir setzt. Geradeso, dass ich ihn weiter anstarren muss. »Habe ich was verpasst?«

»Wir haben noch nicht angefangen«, entgegnet Li-Ming in scharfem Ton. »Aber nun, da wir vollständig sind, können wir das ja jetzt tun.« Ihre Stimme schwimmt an mir vorbei, während ich den letzten Teilnehmer immer noch anstarre.

Das kann nicht wahr sein. Ich muss mich irren. Ich muss ihn verwechseln. Es gibt so viele Gründe, warum es nicht wahr sein kann, was ich da sehe. So viele mehr, als dass es tatsächlich der Realität entspricht.

»Also, mein Name ist Li-Ming Tao und ich bin die Vorsitzende dieses Arbeitskreises«, erklärt Li-Ming abermals. »Ich freue mich, dass wir uns hier alle so kurzfristig für so eine wichtige Aufgabe einfinden konnten. Um jeden etwas besser einordnen zu können, würde ich zunächst gerne mit einer Vorstellungsrunde starten. Zumindest mit den Teilnehmern des Arbeitskreises.« Dann lächelt sie den Utopieschützern entschuldigend zu.

Jayden mustert mittlerweile mich und meinen starren Blick misstrauisch, doch ich schaffe es noch immer nicht, von dem Neuankömmling wegzusehen. Ich suche nach einem Hinweis, nach dem kleinsten Anzeichen, dass ich mir all das einbilde. Denn wie sonst sollte das möglich sein?

»Für die, die mich nicht kennen: Ich bin Geschäftsführerin und Inhaberin der Tao Group. Ich vertrete abseits meiner leitenden, neutralen Rolle also vor allem die wirtschaftlichen Interessen des Landes«, fährt Li-Ming fort.

Während ich den Mann gegenüber von mir immer noch anstarre, verschwimmen die Worte der anderen Teilnehmer, der Volkswirtschaftlerinnen und Psychologen, der Sozialwissenschaftler, Ärztinnen, Kriminologinnen und anderen Experten.

Solange, bis seine Stimme sich schließlich erhebt. »Also zu mir.« Er hat sich mittlerweile weit im Stuhl nach vorne gelehnt, die Unterarme auf dem Tisch abgestützt und wirkt noch bedrohlicher als Jayden in der Haltung, auf mich jedenfalls. Außerdem kaut er schon die ganze Zeit auf etwas herum, vermutlich ein Kaugummi, doch es verstärkt die aufkriechende Übelkeit in mir. »Ich bin Rick Feber und exekutiver Leiter des Utopieschutzes. Ich …«

»Nein«, entfährt es mir wie ein Schmerzensschrei, den ich nicht unterdrücken kann.

Sofort tritt Stille in den Raum, dann fragt Li-Ming: »Was sagtest du, Alexia?«

Der Chef des Utopieschutzes lacht auf und fixiert mich wie ein Raubtier auf der Jagd. »Entschuldigung, aber könnten wir beide einen Moment allein haben? Geht auch schnell.«

Mein Herz hört auf zu schlagen, das Blut stockt in meinen Adern. Ich rechne bereits damit, dass Li-Ming ihre langen Fingernägel in das PerTab krallt, doch stattdessen fragt sie nur: »Ist das wirklich nötig?«

»Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich so angestarrt werde … auch wenn ich es gewöhnt bin, dass Frauen ihren Blick nicht von mir lösen können.« Er zwinkert mir zu und grinst, beides so ekelerregend, dass heiße Säure meine Speiseröhre emporschießt. »Ich denke, für eine angenehme Arbeitsatmosphäre sollten wir das vorher klären.«

»Wir machen fünf Minuten Pause«, gibt Li-Ming überraschend schnell nach. Der Chef des Utopieschutzes springt sofort auf, während ich immer noch zu erstarrt bin, um mich zu bewegen.

»Alexia?«, spricht er mich dann an, jeden Buchstaben so gedehnt, dass mein Name kaum wiederzuerkennen ist.

Der Klang seiner Stimme wiederholt in meinem Kopf lässt mich wie eine Marionette auf die Beine kommen. Mechanisch bewege ich mich auf die Tür zu, blende alles andere im Raum aus.

»Ist schon okay, ich komme alleine klar«, beordert er dann die zwei Utopieschützer zurück, die mir gerade folgen wollten.

Natürlich. Nur, damit wir ganz allein sind.

Alles wirkt dumpf um mich herum, als wäre ich in undurchdringliche Watte gepresst worden, meine Augen vereist, als ich auf den Flur vor dem Sitzungssaal trete. Und dann steht er vor mir, viel größer und breiter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Mit der flachen Hand drückt er die Tür zu, deren Selbstverschluss ihm zu langsam war, bis schließlich kein Geräusch mehr aus dem Inneren herausdringt.

Jetzt bin ich mit ihm allein.

Ich umgreife meine Oberarme, zittere, als stände ich in blankem Frost. Meine Lungen ziehen viel schneller Luft ein, als die geringe Anstrengung es erfordern würde, alles in mir ist auf Hochspannung, und während ich ihn anstarre, fällt es mir schwer, die Tränen zurückzuhalten. Ich fühle mich, als stände ich nackt vor ihm, und erwäge, ob es besser gewesen wäre, auf die Utopieschützer zu bestehen. Mich so daneben zu benehmen, dass sie mich direkt wieder zurückschicken. Vielleicht wäre gerade alles besser, als mit ihm allein zu sein.

Doch als das Armband meine fast taube Haut am Handgelenk streift, richte ich mich wieder auf und hebe das Kinn. Ich habe mittlerweile Schlimmeres als ihn überlebt. Oder, zumindest ebenso Schlimmes. Ich werde keine Schwäche mehr zeigen. Nicht, solange ich es verhindern kann.

»Rick Feber?«, beginne ich also das Gespräch und versuche, ihm einen abwertenden Blick zukommen zu lassen, doch meine Gesichtsmuskeln zucken unkontrolliert.

»Ja, das ist mein Name«, entgegnet er und setzt ein schiefes Lächeln auf.

Wir beide wissen, dass er nicht Rick Feber heißt. Sein echter Name ist Raik Färber, doch das hat keine Bedeutung. Bedeutung hat das, weswegen er seinen Namen ändern musste. Er ist ein Krimineller. Er dürfte gar nicht hier sein, sondern müsste in Utopie Alpha verrotten. Er war derjenige, der meine Mutter getötet hat. Er war einer der Männer, die mich vergewaltigt haben. Er ist schuld an meinem zerbrochenen Leben.

Doch stattdessen ist er ein freier Mensch, das Oberhaupt des Utopieschutzes, während ich die Kriminelle bin, die bewacht werden muss.

All die Erinnerungen schwemmen in mir hoch, machen es mir fast unmöglich, noch klar zu sehen, habe ich doch bloß noch das Bild von jenem Abend vor Augen. Die Dunkelheit, die Nässe, der Matsch, die Schreie. Die Schreie meiner Mutter, meine eigenen, und die ekelerregenden Schreie der Männer. Jene von Raik. In meinem Kopf. Für immer.

Es ist so viele Jahre her, aber dennoch erscheint es mir, als hätte sich nicht ein optisches Detail an ihm geändert. Die Muskeln, die unter seinem engen T-Shirt spannen, als würde er sein Leben in einem Fitnessstudio verbringen. Seine breite, herabschauende Haltung. Die schwarze Kleidung, die er trägt, als hätte er es nur darauf abgesehen, mich mit den Erinnerungen zu quälen.

Es ist wie damals. Alles wie damals.

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