Utopie Alpha - Band 1 > zu Band 2
Paradies der Kriminellen

Das Justizsystem der Zukunft kann die historisch hohe Kriminalitätsrate nicht mehr bewältigen. Alexia fürchtet wie viele andere ständig um ihr Leben, denn auch sie wurde bereits Opfer eines Schwerverbrechens.
Eine aufstrebende Partei verspricht, die Bevölkerung vor weiteren Straftaten zu schützen. Die Lösung lautet Utopie Alpha: ein abgesperrter Bezirk, in dem Verurteilte selbstregiert ihre Veranlagung ausleben können. Das Ziel der Partei ist, Kriminalität abzuschaffen.
Doch schafft es Utopie Alpha tatsächlich, getrennte, ideale Lebensräume für Straftäter und friedlich veranlagte Menschen zu schaffen? Wer entscheidet, welche Personen zukünftig in dem neuen Bezirk leben?
Ist es durch Utopie Alpha möglich, dass Alexia nie wieder Angst und Gewalt erleben muss?
Leseprobe
»Die Ansprache des Präsidenten hat soeben begonnen«, erklingt die Stimme der Moderatorin aus dem Fernseher vor uns. Es ist stockfinster draußen, morgen ist wieder Montag und ich muss zur Schule. Dennoch erlaubt mir mein Vater heute, bis mitten in der Nacht wachzubleiben, um mir dieses Ereignis live anzuhören. Immerhin weiß er, wie wichtig mir die Neuigkeiten sind, die gleich verkündet werden.
Auf dem Bildschirm ist mittlerweile ein Saal voller Menschen zu sehen, die vor einer hohen Bühne sitzen. Darauf nähert sich Marc Struwe dem Podest. Wie immer hat er seinen hellgrauen Anzug an und schreitet aufrecht wie ein Kommandant über die Bühne.
Als Struwe am Podest ankommt, verstummen die leisen Stimmen der Zuschauer, doch das Geräusch wird von lautem Knipsen der Kameras abgelöst. Er lässt den Blick über das Publikum schweifen und legt die Hände auf das Pult, ehe er zu reden beginnt: »Liebe Bevölkerung, ich möchte mich noch einmal für Ihr Vertrauen in mich und vielmehr noch in meine Partei ›Neue Front‹ bedanken. Nur durch Sie war es überhaupt möglich, das zu erreichen, was ich Ihnen nun verkünden möchte.«
Ich blicke hinüber zu meinem Vater. Er hat sich nach vorne gebeugt, die Unterarme auf die Schenkel gestützt, und schaut gebannt zum Fernseher.
»Wir haben heute einen Meilenstein erreicht.« Struwe hält kurz inne, ehe er fortsetzt: »Heute Mittag um 13:47 Uhr wurde der letzte der rund eine Millionen ehemaligen und aktuellen Gefängnisinsassen verlegt und somit die letzte Justizvollzugsanstalt zum Abriss freigegeben.«
Ich atme erleichtert durch. Endlich ist es soweit. Jegliche Anspannung fließt aus meinem Körper und ich lasse mich auf das Sofa sinken.
»Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal bei allen bedanken, die dieses weltweit einzigartige Projekt überhaupt erst möglich gemacht haben.« Er zählt eine Reihe von Ministern, Firmen und anderen Unterstützern auf. »Wir werden nun daran arbeiten, dieses Konstrukt weiter zu stabilisieren, und alles dafür tun, um die Gesellschaft auf dem neuen, glorreichen Weg, den sie gerade begeht, weiter zu unterstützen.« Jubel im Hintergrund.
»Es ist geschafft, Schatz«, haucht mein Vater mir zu, ohne mich anzusehen. Er atmet tief durch, als wäre ein Seil von seinem Brustkorb gelöst worden.
Ich nicke. »Nur schade, dass es zu spät kommt.«
Mein Vater sieht betroffen zum Boden, dann greift er nach meiner Schulter und zieht mich an sich. »Aber wenigstens kann so etwas nie wieder passieren. Niemandem.« Ich drücke mich an ihn, während er fortsetzt: »Ich könnte es nicht ertragen, wenn du …« Er bricht den Satz ab und ich spüre, wie seine Hand sich verkrampft. »Dabei ist dir schon genug passiert.«
Mit plötzlich unwohlem Gefühl im Magen richte ich mich wieder auf. Ich versuche mich an einem Lächeln. »Wie du schon sagtest: Immerhin kann es nicht wieder passieren.«
Ein Knallen im Fernseher reißt uns aus dem Gespräch und ich schaue schlagartig hinüber. Eine alte Aufnahme aus dem Nachrichtenarchiv ist zu sehen. Jugendliche, die Molotowcocktails durch sämtliche Fenster einer Siedlung schmeißen. Prügeleien wie schwarze Ameisenhaufen, alle paar Meter. Schreiende Frauen und Kinder, die gerade …
Ich breche meinen eigenen Gedanken ab, als die Moderatorin fortfährt: »Man mag es kaum noch glauben, aber das war vor über einem Jahr noch tägliche Realität auf unseren Straßen, Konsequenz einer erschreckend hohen Kriminalitätsrate. Angefangen von Massenprügeleien in Freibädern über Missbrauchsfällen in Kindergärten bis hin zu Anschlägen in Flughäfen und anderen Abscheulichkeiten: Die Kriminalität nahm rasant zu, nicht ab, trotz aller Versuche der Regierung, die Polizeiwachen aufzustocken, Militär in den Straßen zu postieren und die Strafen anzuheben.«
Ich schnaufe und schüttle den Kopf. »Strafen anheben«, hallt es noch nach. In der Theorie war das sicherlich passiert, an der einen oder anderen Stelle jedenfalls. Doch was brachte es, Menschen länger und früher zu Gefängnisstrafen zu verurteilen, wenn die Gefängnisse längst überfüllt waren? Was brachte es, wenn es oft nicht einmal mehr zu einem Urteil kam, weil die Gerichte über Jahre ausgebucht waren? Was brachte es, wenn die Kriminellen nicht einmal mehr gefasst wurden, die Aufklärungsrate bei unter zehn Prozent lag? Wer hatte dann noch Angst vor solchen Strafen?
»Umso größer ist die Überraschung, dass die noch so frische Partei ›Neue Front‹ solch weltberühmte Erfolge erzielt hat«, spricht die Moderatorin weiter. Ich schaue gebannt zum Fernseher, als wüsste ich das alles nicht längst. Eine leidenschaftliche Rede des Vorsitzenden einer der früher stärksten und heute eher konservativen Parteien ist ohne Ton zu sehen. Eine der vielen Parteien, die in der letzten Wahl ein historisch niedrigen Stimmanteil hatten, während die »Neue Front« bei ihrer ersten Aufstellung mit über achtzig Prozent Stimmen siegte. »Trotzdem kritisieren viele die Regierung dafür, das Symptom, aber nicht die Ursache bekämpft zu haben. Sie bemängeln, dass vielmehr an der sozialen Ungerechtigkeit, der steigenden Armut und Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Radikalisierung der Menschen …«
»So ein Blödsinn«, übertönt mein Vater die Stimme der Moderatorin und greift gerade nach der Fernbedienung.
Doch ich halte seine Hand fest. »Ich möchte es hören.«
Mein Vater seufzt, legt dann die Fernbedienung jedoch wieder beiseite. Im Fernseher wird mittlerweile eine alte Rede von Struwe gezeigt, die er kurz vor der Wahl hielt. »Wir können es nicht weiter zulassen, in Wirklichkeit nicht von unserem demokratischen System, sondern von den Einschränkungen regiert zu werden, die uns die Straftäter auferlegen. Es fließen jährlich dutzende Milliarden in die Strafverfolgung, in Gerichte, Polizeistationen und Gefängnisse. Dennoch beweist die jährliche Polizeiliche Kriminalstatistik, dass es immer schlimmer wird. So kann es nicht weitergehen!« Struwe steht abermals im grauen Anzug vor einem Podest, doch seine Miene ist kriegerisch, er schlägt mit der flachen Hand auf die Platte vor sich. »Daher haben wir ein weltweit einzigartiges Konzept entwickelt, um dem Einhalt zu gebieten. Es bringt nichts, diese Menschen einzusperren. Es ist ein Fass ohne Boden. Dennoch müssen wir feststellen, dass Straftäter nicht in diese Gesellschaft passen, und sie stellen eine Gefahr dar. Darum werden wir die humanste Möglichkeit schaffen, die ein so reiches Land wie wir zu bieten hat: Wir werden einen eigenen Bezirk für Straftäter abgrenzen. Einen Bezirk so groß wie eine Metropole, in dem alle Straftäter wohnen und leben werden und den sie sich gesellschaftlich und strukturell so erschaffen können, wie sie ihn sich wünschen – aber eben abgeschieden von der restlichen Bevölkerung, die offensichtlich andere Werte und Ziele verfolgt. Sie werden Nahrung und Ressourcen erhalten, finanziert aus den Steuergeldern, die wir durch den Abbau von Gefängnissen, Sicherungsverwahrungen und weiteren Maßnahmen einsparen. Wir machen sie unschädlich, nein, vielmehr noch: Wir erlauben es ihnen und uns, das Leben zu führen, das jeder Einzelne sich wünscht. Hiermit gebe ich ein Versprechen an Sie ab: Wenn Sie die ›Neue Front‹ wählen, werden wir die Eröffnung von Utopie Alpha wahrmachen. Ein glorreiches Vorbild, denen viele weitere Utopien folgen werden.«
Noch heute hadere ich mit dieser Idee. Eine Utopie, ein Paradies? Für jene Menschen, die anderen das Schlimmste angetan haben? Das Leben anderer auf verschiedenste Weise zerstört haben? Manchmal spüre ich Wut in mir, die diese Menschen lieber tot sehen würde. Oder verrottend in heruntergekommenen Zellen, erstickt in Langeweile, sodass sie sich mit ihren Taten bis zum Ende ihres Lebens quälen können. Aber ich weiß, dass das unmenschlich wäre. Immerhin brauchen wir uns so als Gesellschaft keinen Vorwurf zu machen. Wir bieten ihnen alles, was sie sich wünschen. Mehr können wir doch wirklich nicht tun, oder? Das ist schon mehr, als sie verdienen.
Das Fernsehbild schwenkt abermals um und Bilder von der Eröffnung von Utopie Alpha sind zu sehen, die vor ein paar Monaten stattfand. Ein riesiger Bezirk, umrandet von so hohen, schwarzen Steinen, dass die chinesische Mauer neidisch werden würde. Sowohl moderne, helle Hochhäuser als auch einfache, bäuerliche Einfamilienwohnungen sind zu sehen, zwischen dicht bewachsenen Wäldern, fließenden Bächen, modernen Straßen. Sogar Fabrikhallen, Bühnen und Geschäfte stehen zwischen den Wohnhäusern, wie in einer friedlichen, normalen Stadt. So harmonisch, dass man neidisch werden könnte.
Mehr, als sie verdienen.
Ich gähne, auch wenn ich mich nicht wirklich müde fühle. Doch die Erleichterung nach dem, was unser Präsident gerade gesagt hat, macht sich in mir breit.
Mein Vater dreht sich zu mir. »Du solltest wirklich schlafen gehen, Schatz.«
Ich zögere kurz, nicke dann jedoch. »Na schön«, entgegne ich also und stehe auf. Wenigstens hoffe ich, dass ich mit dieser Info eine Nacht besser schlafen werde. Die Info, dass sie alle weg sind. Alle Kriminellen haben dieses Land verlassen und sind in Utopie Alpha gelandet. Es gibt niemanden mehr, der mir etwas antun könnte. Ich bin sicher.
* * *
Doch auch diese Nacht verfolgen mich dunkle Bilder, als ich im Bett liege und versuche, einzuschlafen. Die Erinnerungen plagen mich wie fast jede Nacht, obwohl ich dachte, es wäre besser geworden. Doch diese Konferenz muss sie wieder hervorgerufen haben.
Wie Lichtblitze erscheinen Bilder und Sequenzen, Töne und Gefühle in mir, als würde es in diesem Moment wieder passieren. Wie eine ultrarealistische Projektion vor meinen Augen.
Ich bin mit meiner Mutter unterwegs, es ist bereits spät. Dunkelheit hüllt die Straßen in lange Schatten, erzeugt durch die spärlich leuchtenden Laternen. Es regnet, der Boden ist bereits durchnässt, die kontinuierlich herabströmenden Tropfen lassen die Sicht verschwimmen. Wir sind beinahe zuhause, als sie auftauchen, wie aus dem Nichts, oder ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.
Im nächsten Moment spüre ich nicht mehr die Matratze unter mir, sondern das klamme Gras, mein Kopf pocht und ich glaube das Blut zu ertasten, das von meiner Schläfe heruntertropft. Ich weiß nicht mehr, womit sie mich niedergeschlagen haben. Doch ich liege dort und werde bereits von einem von ihnen festgehalten, während mir die Kleidung vom Körper gerissen wird.
Ich kann mich nicht mehr bewegen, bin wie gelähmt. Doch meine Mutter strampelt und versucht, sich von den zwei Männern, die sie festhalten, loszureißen. Sie schreit. Doch ich bleibe stumm.
Ich spüre den Schmerz, doch als wäre es nicht meiner, als würde ich über ihn lesen und ihn mir bloß vorstellen. Meine Arme sind fixiert und zugleich taub, wie mein ganzer Körper, abgesehen von kurzen Momenten des durchdringenden Schmerzes. Ich fühle mich unendlich hilflos und doch gar nicht richtig anwesend.
Meine Mutter schreit und weint noch immer. Plötzlich schafft sie es, sich loszureißen. Ich sehe, wie sie auf mich zurennt, dann dieser Schrei. Es spielt sich vor meinen Augen ab wie ein langsames Daumenkino. Das Messer, das Blut, dieser Gesichtsausdruck. Dieser Blick.
Doch ich spüre nichts. Ich kann nur daran denken, ob ich die Nächste sein werde, wenn sie mit mir fertig sind.
Ich war nicht die Nächste. Auch wenn es Tage gibt, an denen ich es mir wünsche.
Ich schrecke auf, sehe die Dunkelheit um mich herum und habe Probleme, mich zu orientieren. Beinahe schon instinktiv greife ich nach meinem Lederarmband, rolle es auf und ab. Ich spüre die rauen Enden, die glatte Oberfläche, und jede einzelne Kerbe, jede Unebenheiten. Ich bin hier, in meinem Raum. Ich bin am Leben. Ich bin sicher.
Seit heute Nachmittag bin ich sicher.
Ich starre das Bettende vor mir an, das allmählich in mein Bewusstsein tritt. Ich merke, dass ich durchgeschwitzt bin, obwohl mir kalt ist, mein Atem geht stoßweise. Ich stehe auf, gehe zum Fenster und öffne es, um einige tiefe Atemzüge zu nehmen.
Meine Mutter ist tot. Aber wenigstens sind diese Männer nicht mehr unter uns. Die fünf Männer, die entgegen der geringen Wahrscheinlichkeit zwar gefunden und festgenommen wurden, aber sich nicht im Entferntesten schuldig fühlten. Sie waren noch stolz darauf, dass ich mir ihre Gesichter gemerkt habe. Sie kamen sogar ins Gefängnis – für eine gewisse Zeit. Doch die hatten sie mittlerweile abgesessen. Sie konnten jederzeit hier lauern und zuende bringen, was sie angefangen hatten. Sie hatten es mir sogar angedroht.
Doch Struwe hat das beendet. Die Regierung hat sie alle verlegen lassen. Jene Straftäter im Gefängnis und jene auf freiem Fuß. All jene, die jemals im Gefängnis waren, je eine schwere Straftat begangen hatten. Sie alle sind nun in Utopie Alpha. Auch ihr Mörder. Und meine Vergewaltiger.
Vielleicht kann ich es jetzt endlich schaffen und ein neues Leben beginnen, ein Leben in Frieden und Freiheit, und meine Vergangenheit hinter mir lassen.
* * *
Ich sitze auf einer halbhohen Mauer, die Beine überschlagen, und blättere in dem Buch vor mir, während ich immer wieder aufschaue. Kinder und Jugendliche toben über den Schulhof vor mir, während ich sie als außenstehende Beobachterin analysiere.
Eine jugendliche Dreier-Gruppe marschiert vor mir entlang. Das Mädchen in der Mitte läuft einige Meter vor den anderen, also offenbar die Anführerin. Ihr Kinn ist gereckt, doch ein bisschen zu weit. Sie möchte dominant wirken. Doch ihr Gang ist nicht ganz gerade, ich erkenne ein leichtes Schwanken, vermutlich zittert sie.
Als die Gruppe bei einer Jungen-Clique ankommt, lässt sie automatisch den Kopf sinken. Sie wirft die Haare zurück, jedoch nicht jene vorne in ihrem Gesicht. Sie hebt mehr ihren Schopf am Nacken einige Male, als würde sie sich Luft zuschaufeln.
Ich schaue wieder zum Buch und blättere einige Seiten weiter. Da finde ich es. »Luft mit den Haaren zuwedeln kann je nach Kontext eine Beruhigungsgeste sein«, lese ich. Ich hatte recht. Sie ist gar nicht so dominant, wie sie sich gibt. Diese Begegnung scheint sie anzustrengen.
Einer der Jungen, der vorhin noch gesessen hat, richtet sich auf, als sie näher tritt. Die beiden anderen bleiben sitzen. Die Hände des Jungen sind entkrampft, was ich noch kurz erkenne, bevor er sie in die Taschen steckt. Alle fünf Finger.
Ich blättere erneut im Buch herum. Okay, keine Dominanzgeste. Dann wäre der Daumen draußen geblieben. Ich glaube nicht, dass das Mädchen Sorge haben muss, was auch immer sie dort versucht.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist bereits spät, ich sollte nach Hause. Also stecke ich das Buch weg, werfe mir den Rucksack über die Schulter und verlasse das Schulgelände.
Das Buch, das mein ständiger Begleiter ist, handelt über die Erkennung von Körpersprache. Ich habe es seit dem Vorfall damals bei mir. Ich bin nicht sportlich, nicht kräftig, nicht schnell. Ich fühle mich schwach, als hätte ich nichts entgegenzusetzen, wenn mich so eine Gruppe an Männern noch einmal angreift. Und das tun sie ständig, in meinem Kopf. Jeden Tag, mehrfach.
Ich konnte die Hilflosigkeit nicht mehr ertragen. Natürlich habe ich einen Selbstverteidigungskurs besucht, doch sicherer fühle ich mich dadurch nicht. Ist das realistisch, was sie mir dort beigebracht haben? Wie gut stehen meine Chancen, fünf Männer mit Messern abzuwehren? Wie gut stehen meine Chancen, nur einen einzigen mit einem gezielten Griff oder Tritt zu Boden zu bringen? Besser, aber sicher nicht gut genug. Was, wenn die erlernte Technik gerade nicht anwendbar ist? Soll ich dann um mich schlagen, mit meinen Wackelpudding-Ärmchen? Was, wenn es zu einem ganz anderen Angriff kommt, auf den ich nicht vorbereitet bin? Oder ich einfach auf einen so überlegenen Gegner treffe, dass mir all die Selbstverteidigungstricks nichts bringen?
Ich habe mich für eine andere, für mich angemessenere Strategie entschieden. Eine, die immer anwendbar ist – hoffe ich jedenfalls. Ich möchte meinen Gegner überlisten. Ich möchte verstehen, wie er reagiert, bevor er reagiert. Wie er denkt. Und wie ich ihn manipulieren kann.
Ich hatte ehrlicherweise noch nicht viel Gelegenheit, es auszuprobieren. Hier und da versuche ich es einzusetzen, um eine Klassenarbeitsfrage vorauszuahnen oder mit entgegenkommenden Fußgängern wortlos zu verhandeln, wer ausweicht. Diese Tests verliefen immerhin überraschend erfolgreich. Was die leise Hoffnung in mir aufsteigen lässt, dass ich nicht ganz hilflos bin. Ich könnte mich bei einem erneuten Angriff nicht körperlich wehren. Aber vielleicht habe ich jetzt wenigstens eine Strategie, um die nächste Situation dieser Art mit minimalem Schaden verlassen zu können.
Ich umklammere die Träger meines Rucksacks, als ich auf die Straße abbiege. Es ist friedlich hier, seit Utopie Alpha eröffnet wurde. Auch wenn mein Inneres immer noch schreit, ich müsste auf mich aufpassen. Jeder Fußgänger, der gelassenen Schrittes spazieren geht, jedes gleichmäßig dahindüsende Auto, jedes Schattenspiel zwischen Bäumen wird als Gefahr identifiziert. Mein Kopf legt diesen düsteren Schatten über meine Sicht und wenn ich einen Moment lang nicht aufpasse, lässt er gefährliche Trugbilder vor meinen Augen erscheinen, die mich schon mehrfach unvermittelt zurückstolpern ließen.
Ich biege an der Kreuzung ab und betrete unsere Wohnsiedlung. Die Straße ist schmal, die Vorgärten riesig. Einfamilienhäuser stehen nebeneinander wie in einer Luxus-Gegend. Doch trotz des vertrauten Gefühls der Heimat fühle ich mich hier draußen immer noch unwohl. Ich schaffe es mittlerweile, die schmale Seitengasse, den Spalt zwischen zwei Häuserwänden, jenen gefährlichen Ort von damals, auszublenden. Aber das ist alles, was ich im Moment erreichen kann.
Ob ich ausziehen sollte, sobald ich 18 werde? Oder noch früher?
Ich schüttle den Kopf. Das würde ich gerne, und wie gerne, am liebsten schon jetzt. Aber das könnte ich meinem Vater nicht antun. Und mir auch nicht. Käme ich allein überhaupt zurecht?
Ich hebe den Blick von der Straße und stelle mit Erstaunen fest, dass ein Polizeiwagen vor unserem Haus steht. Ich runzle die Stirn. Hoffentlich ist nichts vorgefallen.
Ich beschleunige meinen Schritt und sehe, dass mein Vater in der Tür steht, nur halb im Rahmen, mit einer Hand immer noch den Türgriff haltend, als wolle er sie jederzeit wieder schließen. Allmählich verstehe ich auch Worte: »Ich sagte doch schon, ich weiß nicht, wann …«
»Es ist wirklich wichtig, Herr Kempner«, spricht die Polizistin auf ihn ein. »Könnten Sie sie bitte anrufen?«
Ich zögere. Ob sie über mich sprechen?
Plötzlich hebt mein Vater den Blick in meine Richtung. In seinen Augen sehe ich für einen Moment noch ein Flehen, als wollte er mir etwas mitteilen. Nur einen Moment später erkennen mich auch die Polizisten, die nun auf mich zukommen. Ich trete gerade auf unseren Vorgarten, als mich die weibliche Beamtin anspricht: »Alexia Kempner?«
»Ja?«, entgegne ich knapp. »Ist was passiert?« Im Hintergrund sehe ich, dass mein Vater nun dazueilt.
»Kommst du bitte mit?« Obwohl die Polizistin versucht, sanft zu sprechen, klingt es dennoch nach einem Befehl. Sie deutet auf den Polizeiwagen.
Ich beobachte sie skeptisch. In ihrer Stimme liegt ein leichtes Beben, ihr Blick ist steif auf mich gerichtet, ihre Pupillen zusammengezogen. Sie ist nervös, versucht, etwas zu verheimlichen. Was nicht schwer zu erraten ist, immerhin hat sie mir immer noch keine Antwort auf meine Frage gegeben.
»Werde ich einer Straftat beschuldigt?«, komme ich also auf den Punkt.
Die Polizistin richtet sich bedrohlich auf und atmet tief Luft ein. Sie nickt ihrem Kollegen zu, der sich daraufhin zu meinem Vater stellt. Kein gutes Zeichen. »Du wirst mitkommen und wir bringen dich an einen Ort, wo Leute wie du zufriedener werden.«
Mir stockt der Atem. Die Formulierung kenne ich doch nur von … »Utopie Alpha?«, stoße ich laut aus.
Die Polizistin reagiert nicht. Mir wird plötzlich abwechselnd heiß und kalt. »Was … aber … wieso? Das ist doch nur für Kriminelle, ich habe nichts …«
»Das wissen wir«, unterbricht sie mich jedoch.
Ich schüttle immer noch heftig den Kopf, während ich meinen Vater höre: »Das ist ein Irrtum!« Er tritt einen Schritt näher heran, doch im selben Moment hält der Polizist ihn zurück.
Meine Beine werden weich. Passiert das gerade wirklich? Oder ist das einer meiner Albträume? Es muss ein Albtraum sein.
»Okay, warten Sie«, wende ich ein und hebe beschwichtigend die Hände. »Wir fahren zur Polizeiwache und klären das Ganze auf, oder? Ich kann sicher beweisen, dass ich unschuldig bin.«
Die Polizistin seufzt erneut, doch es klingt eher genervt. »Du wirst keiner Straftat bezichtigt.«
Sie holt ihr Smartphone hervor, doch ich setze bereits nach: »Aber wieso …?« Ich zögere. »Utopie Alpha ist doch nur für Kriminelle gedacht!«
»So wie du«, entgegnet sie trocken und tippt auf ihrem Smartphone herum. »Nachdem gestern der letzte Straftäter verbracht wurde, sind die neuen Maßnahmen der Regierung zur Straftatprävention in Kraft getreten.«
»Maßnahmen zur Straftatprävention?«, wiederholt mein Vater, immer noch entgegen des Widerstandes des Polizisten nach vorne gelehnt.
Die Frau nickt. »Es bringt zum Schutz der Bevölkerung wenig, die Leute erst einzusperren, wenn sie bereits gemordet haben. Daher wollen wir Straftäter bereits identifizieren, bevor sie straffällig werden.«
Wieder schüttle ich den Kopf. »Und was soll das mit mir zu tun haben?«
Die Polizistin scrollt auf ihrem Smartphone herum. »Alexia Kempner, fünfzehn Jahre alt. Schweres Kindheitstrauma. Errechnete Wahrscheinlichkeit für Straftaten: einundsiebzig Prozent.«
Meine Augen schwanken hin und her, als würde ich ein Pendel beobachten, und mein Kreislauf droht, zu versagen. »Aber … wieso sollte ich …«, beginne ich.
Doch die Polizistin unterbricht mich in so einer monotonen Stimme, als hätte sie diese Gespräche heute schon oft geführt: »Neueste wissenschaftliche Studien haben eine starke Korrelation zwischen dem Erleben eines Kindheitstraumas vor dem fünfzehnten Lebensjahr und der späteren Ausübung schwerer Straftatvergehen festgestellt. Die Wahrscheinlichkeit für eine kriminelle Laufbahn ist im Vergleich zu nicht traumatisierten Kindern achtmal so hoch.« Sie mustert mich, als könnte sie so in das Innerste meiner Seele schauen. »Die Präventionsmaßnahmen verlangen, dass Menschen mit einer Straftatwahrscheinlichkeit von über siebzig Prozent ebenso behandelt werden wie bereits verurteilte Straftäter und zur Sicherung der Gesellschaft nach Utopie Alpha überführt werden.«
Nun pocht mein Herz nicht mehr, es ist stehen geblieben. Die Spucke in meinem Mund ist versiegt. Ich stehe da, bewegungslos.
Das darf nicht passieren. Das darf nicht wahr sein!
Mein Vater drängt sich abermals nach vorne. »Nehmen Sie mich, aber lassen Sie meine Tochter in Ruhe!«
Die Polizistin blättert erneut in ihrem Smartphone herum. »Ralf Kempner, achtundvierzig Jahre alt. Männlich und gewaltsamer Verlust der Ehefrau. Sie haben nur eine Wahrscheinlichkeit von achtundsechzig Prozent. Jedenfalls, wenn Sie sich jetzt benehmen. Sonst könnte Ihr Score schnell über siebzig steigen.« Sie schaut wieder auf und blickt ihn drohend an. »Am Schicksal Ihrer Tochter ändert das aber in jedem Falle nichts.«
Ich stolpere einige Schritte zurück. Das darf nicht passieren. Ich darf nicht nach Utopie Alpha. Dort, wo all die Kriminellen leben, die Mörder und Folterknechte und Vergewaltiger. Da, wo jene Männer von damals sitzen. Sie alle.
Das ist viel schlimmer als alles, was ich mir je ausgemalt habe. Viel schlimmer als mein Tod.
Ich kann noch immer nicht ganz begreifen, was gerade passiert. »Sie … sperren mich weg, wegen einer Statistik?«, bringe ich brüchig hervor.
Plötzlich wird das Gesicht der Polizistin weich, geradezu aufgesetzt lächelt sie. »Wir sperren dich nicht weg. Wir ermöglichen dir ein Leben, das viel besser zu dir passt.«
Abermals schüttle ich den Kopf. Was passiert hier nur gerade? Wie konnte es soweit kommen? Gestern noch war ich voller Hoffnung, heute noch glaubte ich, endlich ein neues Leben beginnen zu können. Ein friedliches, neues Leben. Wann nur wurde entschieden, dass mir diese Hoffnung geraubt werden soll?
Unerwartet beugt sich die Polizistin zu mir herab und hockt sich vor mich. Noch immer lächelt sie. »Wir wollen alle nur das Beste für dich. Was bringt es dir, wenn du dich ein Leben lang in einer Gesellschaft durchquälen musst, die nicht zu dir passt? Dich verstellen musst und unzufrieden bist?« Sie hält inne und lächelt. »Oder bist du im Moment zufrieden?«
Ich umklammere meinen Oberkörper. Natürlich bin ich nicht zufrieden. Aber liegt das nicht vielmehr daran, dass ich ständig Angst habe? Dass ich mit Panik um jede Häuserecke schaue, als könnten dort die Männer von damals stehen? Ist das nicht der Grund, weswegen ich unzufrieden bin?
»Hören Sie auf damit!«, brüllt mein Vater, doch es klingt wie aus meilenweiter Entfernung.
Die Polizistin hockt immer noch vor mir. »Spürst du nicht manchmal unbändigbare Wut? Einen solchen Hass, dass du am liebsten jemanden büßen lassen würdest?«
Schlagartig schaue ich auf. Ich hatte oft den Gedanken daran, den Mördern meiner Mutter dasselbe anzutun. Aber ist das nicht normal?
Bin ich nicht normal?
»Hören Sie endlich auf!«, schreit mein Vater abermals.
»Stell dir nur vor, du kannst dich irgendwann nicht mehr zusammenreißen«, redet die Frau jedoch weiter auf mich ein. »Und stell dir vor, dann geschieht etwas Schlimmes. Du schadest jemandem. Stelle dir die Schuldgefühle vor, die dich dann quälen. Du kannst das verhindern, Alexia, indem du mit uns kommst.«
Ich schlinge die Arme enger um meinen Körper und etwas Beängstigendes flammt in mir auf. Könnte sie recht haben? Es gibt Tage, da stecke ich voller Trauer, und Tage, da bin ich voller Wut. Wäre ich nicht so unsportlich, hätte ich längst mit einem Kampfsport angefangen, vielleicht sogar gelernt, mit einem Messer umzugehen. Das ist offenbar nicht normal. Ich bin nicht normal.
Jedenfalls nicht für diese Gesellschaft.
Es graut mir davor, mit diesen abscheulichen Kreaturen zusammenzuleben. Aber ist es vielleicht das, was ich verdient habe? Sollte ich dort sein, ehe ich die Kontrolle verliere und noch ein anderes Leben zerstöre? Gibt es gar nichts, was ich dem entgegensetzen könnte?
Ich meine, wenn die Statistik das sagt?
»Komm.« Die Polizistin richtet sich wieder auf und streckt mir die Hand entgegen. »Lass uns gehen.«
»Nein!«, ruft mein Vater nun und stürmt mit so einem Schwung nach vorne, dass er den Polizisten umreißt. Ich drehe mich zu ihm, will ihn noch beruhigen, ihm zusprechen, dass es in Ordnung ist. Es muss so sein. Es muss passieren.
Doch dann höre ich ihn bereits, den ohrenbetäubenden Knall.
Ich löse mich aus der Hand der Frau und presse die Handflächen auf die Ohren. Ich brauche einen Moment um mich zu beruhigen, ehe ich die Augen öffnen kann. Dann sehe ich ihn, meinen Vater, auf dem Boden. Blut sickert in seine Kleidung. Sie haben geschossen. Ihn erschossen. Er ist tot.
Ich breche auf dem Boden zusammen, obwohl ich am liebsten flüchten würde. Ich schreie, obwohl ich lieber weinen würde. Ich kauere mich zusammen, obwohl ich lieber nach meinem Vater greifen würde. Er darf nicht sterben. Nicht auch noch er.
Meinetwegen. Sie alle sind meinetwegen gestorben.
Die Frau reißt mich mit sich. Meine Ohren piepen, mein Blick verschwimmt und ich starre auf meinen Vater, wie er am Boden liegt, das Gesicht im Matsch. Wie er immer kleiner wird, während ich zum Polizeiwagen gezogen werde.
Ich höre noch, wie die Polizisten einen Krankenwagen bestellen. Doch es ist zu spät. Er ist tot.
Wäre ich doch nur an seiner Stelle gestorben.
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