Morbus Inertia
Krankheit der Ineffizienten

Wie viel Leid erträgst du, um von Ineffizienz geheilt zu werden?
Die effizienzgetriebene Gesellschaft der Zukunft hat eine neue Krankheit identifiziert: Morbus Inertia. Sie zeichnet sich durch Trägheit und Leistungsverlust aus, kann jedoch in Optimierungskliniken behandelt werden.
Caitlyn blieb bisher von der Krankheit verschont und konzentrierte sich auf ihre Arbeit und eine effiziente Lebensführung. Doch als sie plötzlich für eine Morbus-Inertia-Behandlung vorgesehen wird, gerät sie in einen qualerfüllten Kampf gegen ihre Ängste und für ihr Überleben.
Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der Leistung der einzige Bewertungsmaßstab ist? Was wirkt gegen eine Krankheit, die sich durch Ineffizienz auszeichnet? Und welches Schicksal teilen jene Patienten, die nicht von Morbus Inertia geheilt werden können?
Leseprobe
1. Kapitel
»Kurzfakt Nummer 36«, ertönt das Wissensstreaming durch meine Kopfhörer, »Effizienz als Bewertungsmaßstab in Schule, Arbeit und Freizeit wurde von einem Konsortium entwickelt, in dem sowohl Vertreter der Regierung als auch namenhafte Unternehmen Mitglied waren. Seither gilt die Leistungsbewertung als gerechter, da Geschlechter-, Rassen- und Altersdiskriminierung auf systemischer Ebene verhindert werden.«
Meine Finger fliegen über die Tastatur, den Bericht vor mir abschließend, während mein Blick immer wieder zu der Kalkulationstabelle auf dem linken und den Kamerabildern auf dem rechten Monitor hinüberhuscht. Information erhalten, Information aufgenommen, Information gespeichert. So, wie ich es gelernt habe.
»Kurzfakt Nummer 37: Die geschlechterneutrale Wortendung ›-subjekt‹ ist als offizielle Schreib- und Sprechweise für nicht-geschlechtsspezifische Personenbezeichnungen aktuell verwendeter Standard in der Verfassung und neuen Gesetzesentwürfen.«
Erneut springt mein Blick zu den Live-Bildern meiner Mitarbeitersubjekte. Sie alle sind auf ihre Computer konzentriert, genauso wie ich.
Zufrieden wende ich mich wieder meinem Bericht zu. Es ist unsere Aufgabe, aufeinander aufzupassen. Schließlich arbeiten wir abgeschottet in den Zimmern unserer Wohnanstalten. Allein, in Ruhe.
»Kurzfakt Nummer 38«, spricht die monotone Stimme durch mein Headset weiter. »Seit der Entdeckung von Morbus Inertia konnten bereits über zehntausend Menschen von der Krankheit in diversen Optimierungskliniken des Landes geheilt werden. Verschiedenen Indikatoren zufolge hat dies zu einer Wirtschaftskraftsteigerung von sechsunddreißig bis einundvierzig Prozent geführt.«
Ein Anruf geht ein, der mich aus meiner Arbeit reißt. Mit gerunzelter Stirn betrachte ich das quadratische Fenster auf meinem Desktop, das die Anruferin ankündigt. Es gibt kaum noch jemanden, der telefoniert. E-Mails sind effizient, selbst in dringenden Fällen, denn so werden Zeiträuber wie Floskeln, Smalltalk oder persönliche Befindlichkeiten vermieden.
Doch diesem Anruf kann ich heute nicht entgehen, denn laut der Anzeige auf meinem Monitor handelt es sich um die wichtigste Anruferin, die sich bei mir hätte melden können: Joanna, leitende Wissenschaftlerin der Westbach Forschungsanstalt und Optimierungsklinik. Aktuell arbeiten wir an einem Auftrag für diesen Optimierer und wenn ich die Zahlungssumme in den Teilrechnungen überschlage, haben mein Team und ich damit unsere Firma für die nächsten drei Jahre finanziert. Wenn wir unseren Job gut erfüllen, haben wir vielleicht sogar die Chance auf Folgeaufträge. Für sie werde ich daher eine Ausnahme machen.
Also nehme ich den Anruf an, was den Stream auf meinen Kopfhörern automatisch pausiert. »Wie kann ich helfen?« Eine Namensnennung von mir oder dem Unternehmen ist ineffizient. Sie weiß schließlich, wen sie angerufen hat.
»Hallo Caitlyn«, beginnt Joanna dennoch. »Findet das Release der Software morgen wie geplant statt?«
Ich suche mit meinem Blick einen Punkt an der Wand, um ihn zu fixieren, während ich eine Hand an meinen Kopfhörer halte. »Selbstverständlich«, antworte ich. Die Rückfrage allein ist eine Beleidigung unserer Arbeitsleistung. Wir sind immer im Zeitplan, dank eingeplanter Puffer oft sogar davor, aber das müssen die Kundensubjekte nicht wissen.
»Dass die Übertragung funktioniert, wurde ebenfalls getestet?«, hakt Joanna mit eisiger Kälte in der Stimme nach.
Zum ersten Mal in meinem Leben bedauere ich, dass Anrufe nicht zeitgleich mit einer Videoübertragung gestartet werden. Ich würde zu gerne einschätzen, ob sie mich gerade auf den Prüfstand stellt oder unserer Firma so wenig vertraut. »Ich habe mit der Tunnelsoftware bereits einen Test durchgeführt. Also ja, es funktioniert alles.«
Ohnehin nehmen wir keine Aufträge von den wenigen Unternehmen und Fabriken an, die noch nicht mit den Standards kompatibel sind. Viel zu ineffizient wäre es, einer meiner Mitarbeitersubjekte für eine Installation oder Wartung vor Ort einhundert Kilometer oder noch weiter fahren zu lassen – auch wenn Joannas Klinik nicht ganz so weit entfernt liegt.
»In Ordnung.« Trotz meiner Zusagen klingt ihre Stimme wenig erfreut. Ich schätze bereits ab, ob damit ihr Pflichtanruf beendet ist, als sie nachsetzt: »Ich melde mich, weil sich noch kurzfristig eine Abteilung mit einem dringenden Anliegen an mich gewendet hat.«
»Eigentlich …«, beginne ich.
Doch da erhebt sie bereits die Stimme und redet über mich hinweg: »Ich weiß, dass nachträgliche Änderungen des Anforderungsplans nicht erwünscht sind, aber es handelt sich um eine Kleinigkeit. Ihr würdet der angesehensten Optimierungsklinik des Landes sehr helfen, wenn sie noch Einzug in das kommende Release finden könnte.«
Ich presse die Lippen aufeinander. »Nicht erwünscht« ist untertrieben. Wenn wir dadurch in Verzug geraten oder die Softwarequalität leidet, wird jedes Mitarbeitersubjekt meines Teams in Verruf geraten, inklusive mir selbst. Dennoch war immer einer der Stärken meines Teams, dass wir jede noch so verrückte Anforderung möglich gemacht haben. Außerdem wage ich mich nicht, einer so zahlungsfähigen Kundin wie Joanna und ihrer Optimierungsklinik die Bitte auszuschlagen. Abgesehen davon, dass sie ohnehin nicht so klingt, als würde sie ein Nein akzeptieren.
Sollten wir es schaffen, dass sie mit unserer Arbeit zufrieden ist und diesem Unternehmen weitere Aufträge erteilt, müssen meine Mitarbeitersubjekte und ich nie wieder einen Leistungsbericht fürchten. Und ich bin überzeugt, wir schaffen das.
Also entgegne ich: »Wir bekommen das sicher noch unter.«
»Erfreulich«, entgegnet Joanna kühl. »Es geht um eine Anpassung des Lagersystems unserer Krankenstation.«
»Alles klar, lass mir einfach die Details zukommen«, erwidere ich und wende mich gedanklich bereits meiner Zeitplanung zu.
»Ich möchte die Anforderungen lieber direkt an die Person weiterleiten, die die Aufgabe bearbeitet«, erobert Joanna meine Aufmerksamkeit jedoch zurück.
Ich runzle die Stirn. Ich weiß, dass meine Mitarbeitersubjekte für den Rest des Tages ausgelastet sind. Da ich diese Entscheidung getroffen habe, möchte ich ihnen nicht die zusätzliche Arbeit aufbürden, also wird sie an mir hängen bleiben. Dennoch wundert mich Joannas Verhalten – schließlich ist es meine Aufgabe, die Arbeit in meinem Team zu verteilen, nicht ihre.
Als Joanna mein Zögern bemerkt, setzt sie nach: »Unsere strengen Sicherheitslevel erfordern, dass nicht mehr Personen als nötig Einblick in die Funktionsweise dieses Lagersystems erhalten.«
»Natürlich«, erwidere ich sachlich. Oft genug habe ich Sicherheitsanforderungen gelesen, die mehr als merkwürdig waren. »Schicke dennoch mir die Anforderungen zu. Ich werde die Änderungen übernehmen.«
»Ich werde sie dir durchgeben«, bestimmt sie jedoch. »Wie ich schon sagte, es handelt sich um Systeme mit höchster Geheimhaltung.«
Ich zögere. Den Code dazu habe ich sowieso auf meinem Rechner. Was soll der Aufwand?
Doch dann lasse ich die Anspannung aus meinem Körper heraus. Vermutlich geht es ihr nur darum, diejenige zu sein, die bestimmt. Schon bei meinen letzten Gesprächen mit ihr hatte ich den Eindruck, dass sie keinen Satz sagen konnte, ohne zu betonen, wie herausragend ihre Optimierungsklinik ist. Was nur verständlich ist: Alle unsere Kundensubjekte und auch ich definieren uns über das, was wir erreicht haben. Also werde ich auch ihr das Gefühl lassen, ein Mitbestimmungsrecht zu haben.
»In Ordnung«, antworte ich also und öffne eine neue Datei auf meinem Rechner, ehe sie mir eine banale Liste an Änderungen durchgibt.
Mit dem ersten Anklang von Zufriedenheit beendet Joanna ihre Liste, ehe sie ergänzt: »Wir hören uns dann morgen beim Release.«
»Das Einspielen der Software wird ein Kollegensubjekt aus einer anderen Abteilung übernehmen«, widerspreche ich. »Sollte es jedoch nachträglich noch Rückfragen geben oder Probleme auftreten, bin ich natürlich deine erste Ansprechpartnerin.«
»Einverstanden.« Dann legt sie auf. Effizient, wie es sein muss.
Kapitel 2
»Kurzfakt Nummer 39«, ertönt es wieder durch meine Kopfhörer.
Ich entscheide mich, vor den Codeänderungen noch den Bericht abzuschließen, an dem ich gesessen habe: eine Leistungsbeurteilung meiner Mitarbeitersubjekte, die an die Human Resources Abteilung geht. Es ist ohnehin nicht so, als würde ich jemanden von ihnen als ineffizient oder leistungsschwächer einschätzen. Nicht offiziell jedenfalls.
Mein Blick schwenkt zu Tom, an dessen Bericht ich mich nun begeben muss. Er legt den Kopf in die Hände und wirkt verzweifelt.
Nein, Tom ist nicht nur mein Mitarbeiter, er ist mein Freund. Auch wenn ich das niemals jemand anderem sagen darf als ihm, denn sowas darf offiziell nicht existieren. Freundschaften sind ineffizient.
Ich reiße mich von dem digitalen Fenster los. Seit ich älter bin, verstehe ich, warum es verpönt ist. Es lenkt von der Arbeit ab.
Neugierig geworden?
Erfahre mehr auf: