Autorin Jennifer Fortein

Jennifer Fortein wurde in den Neunzigern geboren und ist im Ruhrgebiet aufgewachsen. Ihre Bücher sind geprägt von düsterer Atmosphäre und kontroversen Denkanstößen. Ob sozialkritische Dystopie, verzwickter Thriller oder Romance-Story mit ungewöhnlichem Love Interest: Ihre Werke regen zum Nachdenken an und handeln von starken Frauen sowie dem Kampf gegen innere wie äußere Dämonen.

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Besessenheit in Ewigkeit

Dark Romance Geisterjäger-Thriller

Cover Besessenheit in Ewigkeit

Veröffentlichungsdatum: 24.10.2024

Genre: Dark Romance, Paranormaler Thriller

Ilona erforscht als Geisterjägerin bei den Daemon Scarers paranormale Phänomene. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern des Vereins hat sie es sich jedoch zur Aufgabe gemacht, natürliche Ursachen für das vermeintlich Übernatürliche zu finden.

Doch ihr neuster Fall stellt sie nicht nur vor wissenschaftliche, sondern auch vor persönliche Herausforderungen. Der Auftraggeber Jasper provoziert sie mit seiner aufdringlichen Arroganz, was jedoch nicht die einzige Bedrohung ist, die von dem Mann mit der düsteren Präsenz ausgeht. Als Ilona dann noch herausfindet, dass der Spuk keine rein physikalische Ursache hat, gefährden die unbekannten Kräfte plötzlich Menschenleben ...

Wird Ilona den Fall aufklären können? Oder erlebt sie übernatürliche und zwischenmenschliche Phänomene, die selbst sie nicht erklären kann?

Leseprobe

1. Kapitel

»Ihre Gläser zerbrachen also nicht durch einen Poltergeist, sondern durch Vibrationen verursacht durch den Verkehr und den verlassenen Bergbauschacht unter Ihrem Haus«, beende ich meine Zusammenfassung an unsere Auftraggeberin, während ich mein Tablet wieder an mich drücke.

»Also wird das Haus nicht heimgesucht?« Noch immer wirkt sie aufgelöst, blickt sich um, als würde sie von jenem Poltergeist verfolgt werden.

»Nein«, wiederhole ich und erspare mir damit schweren Herzens ein »selbstverständlich nicht«.

Die alte Dame legt eine Hand auf ihren Brustkorb. »Es tut mir so leid, dass ich Sie damit belästigt habe.«

»Das haben Sie keineswegs!« Marvin drängt sich zwischen uns. »Das ist doch unser Job! Außerdem ist es immer besser, abzuklären, ob es sich nicht doch um eine Geistererscheinung handelt.« Er zwinkert ihr zu. »Vorsicht ist besser als Nachsicht, nicht wahr, meine Liebe?«

Ich verdrehe die Augen. Wenn ich nicht wüsste, dass zuhause sein Partner auf ihn wartet, würde ich trotz des Altersunterschieds denken, er flirtet mit ihr. Ob er diese Show nur aufführt, damit wir weiterempfohlen werden? Doch aus den wenigen Malen, in denen zu viel Alkohol ein gesprächiges Loch in seine Seele gebrannt hat, schließe ich, dass es tatsächlich seine Art sein muss.

»Vermutlich haben Sie recht.« Entgegen dem gesamten Gespräch, das ich mit der Dame geführt habe, erscheint nun ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »Ich bedanke mich noch einmal bei Ihnen!«

Marvin winkt ab. »Keine Ursache, das machen wir doch gerne.« Er lacht übertrieben auf. »Wenn Sie uns jedoch unterstützen möchten, würden wir uns sehr über eine kleine Spende freuen!« Zusammen mit dem Satz lässt er eine Visitenkarte in der Hand der Frau verschwinden, sodass nur kurz noch der Schriftzug »Daemon Scarers – Geisterjäger« aufblitzt.

Ich senke beschämt den Blick und frage mich, wie er der älteren Dame noch Geld abknöpfen kann. Sie trägt seit Tagen dieselbe Kleidung, das Mobiliar ist alt, die Wohnung winzig. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, Kaffee von ihr anzunehmen, und hätte mich nicht gewagt, sie noch nach einer Spende zu fragen. Dennoch weiß ich, wie sehr wir auf dieses Geld angewiesen sind, also schweige ich. Schon so investiere ich viel zu viel in Reparatur oder Neuanschaffung von Ausrüstung, denn die geringen Spenden, die meistens nur direkt nach einem Auftrag hereinfließen, reichen gerade so für die Miete unseres Lagerraums. Wenn die auch noch entfallen …

»Das werde ich selbstverständlich tun!«, erklärt die Frau mit fester Stimme. »Sobald ich die Überweisung bei der Bank vorbeibringen kann, erhalten Sie eine Bezahlung für Ihre Dienste.«

»Es ist keine Bezahlung, meine Liebe.« Marvin tätschelt ihre Hände. »Aber eine Sicherstellung, dass wir auch anderen verzweifelten Menschen zur Seite stehen und so in das Licht der Sicherheit zurückführen können.«

Erneut verdrehe ich die Augen. Obwohl sein Auftritt so plump ist, schafft er es stets, uns wie ein Staubsaugervertreter an die Menschen zu verkaufen.

»Komm, wir haben die Dame nun genug belästigt.« Meine Geduld ist aufgebraucht, sodass ich an Marvins Shirt zupfe. Timea, unser verbleibendes Teammitglied, hat mittlerweile unsere Ausrüstung in unserem Transporter verstaut, also gibt es keinen Grund, noch länger Smalltalk zu betreiben. Im Gegensatz zu Marvin wartet zwar niemand auf mich, aber dennoch weiß ich mit meiner Freizeit Besseres anzufangen, als ihm beim Flirten mit der älteren Dame beizustehen.

Marvin grinst erneut breit. »Wir müssen dann wohl los. Aber sollten Sie eines Tages Sehnsucht nach uns haben«, erneut zwinkert er ihr zu, »dann melden Sie sich jederzeit bei uns.«

»Marvin«, wiederhole ich ungeduldig. »Timea wartet.«

»Schon gut.« Er macht eine Verbeugung zur Verabschiedung, was all das noch lächerlicher erscheinen lässt. »Haben Sie ein schönes Wochenende, meine Liebe.«

»Das werde ich«, entgegnet die Frau, ehe sie uns zum Abschied winkt.

Erleichtert darüber, diese Wohnung endlich verlassen zu können, sackt mein Brustkorb in sich zusammen. Dabei empfinde ich sogar einen Rausch, weil ich wieder einmal den vermeintlichen Spuk mit Wissenschaft erklären konnte. Doch die vergangene Woche, in der ich tagsüber meinem Vollzeitjob im Callcenter und anschließend stundenlang diesen Geisteruntersuchungen nachgegangen bin, hat den Wunsch nach erholsamem Ausschlafen in mir geweckt. Ich werde mir nicht mein Wochenende von Marvin stehlen lassen, also verlasse ich die Wohnung und achte nicht mehr darauf, ob er mir folgt oder nicht.

Timea beobachtet uns vom Bürgersteig aus, bis sie plötzlich in den Transporter einsteigt. Ein Blick über die Schulter bestätigt meine Vermutung: Marvin ist mir gefolgt.

»Das war doch eine wirklich nette Dame, oder?« Marvin unterstreicht jedes Wort mit übertriebener Handgestik, während wir uns dem dunklen Transporter nähern, der mich mit seinem roten Streifen und den gleichfarbigen Felgen an das Gefährt des A-Teams erinnert. Nur der Matsch an den Reifen und der lässige Fahrer fehlen noch.

Als ich gerade nach dem Türgriff greife, drückt Marvin seine Handfläche dagegen. »Du bist schon auf dem Hinweg gefahren.«

»Ja«, bestätige ich. »Und auf dem Rückweg werde ich auch fahren. Ich würde gerne lebendig ankommen.«

»Was soll das denn heißen?« Pikiert stemmt er die Hände in die Seiten.

Doch ich bleibe standhaft. »Du weißt genau, was ich meine. Bei deiner Fahrweise sterben nicht nur die Fliegen auf der Windschutzscheibe.« Empört deute ich auf das Glas.

Dann hebt er plötzlich die Hände und deutet auf mich, nur Sekunden, ehe er sie auf meine Schultern legt. »Ilona …«

»Marvin …«, imitiere ich ihn mit übertriebener Stimme.

Doch er bleibt ernst. »Diese kleine Abschlussfahrt ist stets mein Highlight von so einem Fall.«

Ich lache bitter auf. »Mir wirkt es, als hättest du genug Highlights gehabt.«

»Bitte«, fleht er nun. »Ich bezahle auch das nächste Volltanken, obwohl du den Wagen viel öfter gefahren bist als ich.«

»Na schön.« Ich habe schon jetzt viel mehr Geld ausgegeben, als ich übrig hätte, um meine Ausrüstung aufzuwerten. Ein paar Euros zu sparen, ist mittlerweile nicht nur schön, sondern auch unbedingt notwendig.

Marvins Miene hellt sich auf. »Wunderbar!« Dann hüpft er an mir vorbei und springt in den Wagen. »Du sitzt hinten.«

Ich will noch Protest einlegen, bis ich Timeas entschuldigende Miene auf dem Beifahrersitz sehe. »Wir können auch tauschen, wenn du …«

Doch ich wimmle ab. Vielleicht sind meine Überlebenschancen auf dem Rücksitz höher.

2. Kapitel

Nach einer halsbrecherischen Fahrt erreichen wir unseren kleinen Lagerraum, offiziell das Büro, den wir für unseren Verein angemietet haben. Als wären wir immer noch in einer scharfen Kurve, nur dieses Mal mit geöffneten Autotüren, stürze ich aus dem Wagen und muss mich beherrschen, mich nicht zu übergeben.

»Ach, komm schon, Ilona, jetzt übertreib nicht«, höre ich Marvin hinter mir, während ich mich, vornüber gestützt an einen Baum, zu beruhigen versuche.

Langsam richte ich mich wieder auf, eine Hand noch immer auf meinen Magen gelegt. »Du fährst diesen Wagen nie wieder.« Noch ehe er Protest einlegen kann, reiße ich die Heckklappe des Wagens auf, um den ersten Teil der Ausrüstung auszuladen.

»Du solltest nicht so viel Wut aufstauen. Das ist schlecht für deine Selbstentwicklung.« Timeas vögelchenartige Stimme ertönt neben mir, als ich gerade eine der schwarzen Sporttaschen auf meine Schultern lade.

Ich stelle das Gepäck wieder ab. »Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn wir streiten, aber das Verhalten deines Bruders kannst du nicht verteidigen.« Ich deute mit ausgestreckter Hand nach vorne. »Wenn Marvin weiter fährt wie zugekokst, baut er irgendwann einen Unfall. Die Reparatur kostet Geld. Woher sollen wir das bezahlen?«

Timea fingert an einem ihrer glänzenden Ohrringe herum. »Du hast ja recht. Ich werde mit ihm sprechen.«

»Tu das.« Mit Schwung lade ich mir die Sporttasche wieder über, greife ein Stativ und wende mich dann vom Transporter ab. Doch als ich auf den Haupteingang des Bürokomplexes zusteuere, bemerke ich einen Mann, der davor zu warten scheint. Er zupft an seinen Lederhandschuhen, bis sich seine Aufmerksamkeit auf mich richtet.

Die dunkle Aura, die ihn umgibt, lässt mich erwägen, wie ich ihm am besten aus dem Weg gehe, doch da spricht er mich bereits an: »Das sieht nach Ausrüstung von den ›Daemon Scarers‹ aus.«

Ich schiebe die Sporttasche weiter meine Schultern hoch. »Richtig.«

»Kann ich beim Tragen helfen?« Obwohl ich immer noch einen deutlichen Bogen um ihn schlage, streckt er die Hand in meine Richtung aus.

»Nein, ich …«

»Entschuldigen Sie die Unfreundlichkeit meiner Kollegin«, beginnt Marvin plötzlich hinter mir und stürmt auf den Fremden zu. Sofort greift er nach seiner behandschuhten Hand und schüttelt sie heftig. »Sie sind Jasper Noire, richtig?«

Während der Mann zögerlich den Handschlag erwidert, nickt er. »Jasper reicht.«

»Marvin, hallo.« Allein mein skeptischer Blick scheint zu genügen, damit er zu einer Rechtfertigung ansetzt, immer noch die Hand von Jasper umklammert. »Er hatte mich angerufen, um heute kurzfristig vorbeizukommen.«

Ich setze mein Gepäck auf dem Boden ab und stemme die Hände in die Seiten. »Schön, dass ich das auch mal erfahre.« Dann atme ich tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Schließlich kann der Fremde nichts für Marvins Unorganisiertheit. Also strecke ich ebenfalls die Hand aus. »Ilona.«

Jasper, der sich mittlerweile aus Marvins Griff lösen konnte, erwidert die Begrüßung stumm.

Dann stürmt Marvin bereits voran, wie immer ohne beim Ausladen zu helfen. »Das ist Timea.« In uneindeutiger Geste deutet er auf seine Schwester hinter sich, ehe er die Tür erreicht. »Den Rest klären wir am besten drinnen.«

Bevor er Marvin folgt, wirft Jasper mir noch einen neugierigen Blick zu, der mir bis auf die Knochen dringt. Zusammen mit seiner dunklen Aura wirkt er wie ein Auftragsmörder, der gerade sein Opfer auslotet.

Mit einem unterdrückten Kopfschütteln schultere ich die Sporttasche wieder und folge mit Verzögerung der Truppe zum Büro, das sich stilecht im Keller des Gebäudes befindet. Im Treppenhaus höre ich bereits, wie Marvin den Schlüssel im Schloss dreht.

Ich hoffe, er hat wenigstens vorher …

»Entschuldige die Unordnung«, bestätigt er meine Befürchtung, dass er nicht aufgeräumt hat. Sofort stürmt er auf den Tisch in der Mitte zu und räumt einige Pizzakartons, leere Chipstüten und Blechdosen beiseite. »Wir hatten gestern eine Feier und …«

Doch Jasper hebt bloß die Hand. »Du musst dich nicht rechtfertigen. Mir ist bewusst, dass ihr diese Tätigkeit ehrenamtlich ausübt. Niemand hat Zeit zu verschenken.«

Ich nicke anerkennend, während ich die Ausrüstung in den Boxen und Regalen verstaue. Offenbar jemand mit Verstand.

»Also, Jasper«, beginnt Marvin dann, rücklings gegen den Tisch gestützt. »Wobei können wir dir helfen?«

Der Fremde legt den Kopf schräg und mustert uns intensiv. »Es geht um einen Fall von Besessenheit, bei dem ich eure Aufklärung benötige.«

Ich unterdrücke ein Augenverdrehen. Immer diese voreiligen Diagnosen, bezogen aus irgendwelchen Horrorfilmen oder …

»Der Betroffene ist ein Kind.«

Als hätte er meinen Unwillen bemerkt, fixiert Jasper nun mich, offenbar ahnend, dass diese Aussage sofort meine Aufmerksamkeit zurückerlangt.

»Ein Jugendlicher, genau genommen«, fährt er fort und vergräbt die behandschuhten Finger in den Hosentaschen. »Er ist der Sohn meiner Arbeitskollegin. Er benimmt sich offenbar merkwürdig.«

»Inwiefern?«, frage ich gepresst. »Denn wenn es um Krampfanfälle, Schreiattacken oder Blut aus Mund und Nase geht, sollte deine Arbeitskollegin lieber zur Notaufnahme fahren, statt mit Geisterjägern Kontakt aufzunehmen.«

Meine Aussage handelt mir einen schiefen Blick von Marvin ein, doch Jasper schüttelt prompt den Kopf. »Das ist mir bewusst. Ich gehe nicht leichtfertig mit dem Thema um.« Er hält nach seiner Aussage kurz inne, ehe er ausführt: »Offenbar sieht der Junge Geister.«

»Halluzinationen?«, wiederhole ich. »Damit sollte er auch zum Arzt.«

»Ilona!«, fährt Marvin mich nun an.

Doch Jasper ist schneller: »Der Kinderarzt hat ihn bereits durchgecheckt.«

»Komplett?«, hake ich nach. »Inklusive vollständigem Blutbild, EEG, …«

Obwohl ich Jasper offensichtlich kritisch ausfrage, erscheint ein Lächeln auf seinen Lippen, das mich meine Aufzählung abbrechen lässt. »Ich dachte, ihr wärt Geisterjäger und keine Mediziner. Solltet ihr an solchen Fällen nicht interessiert sein?«

»Das sind wir.« Marvin schiebt sich zwischen uns, als könnte er so sichergehen, dass ich keine kritischen Fragen mehr stellen kann. »Ilona ist nur immer wahnsinnig darum bemüht, irgendeine nicht-paranormale Erklärung zu finden.«

Entgegen meiner Erwartung hebt Jasper anerkennend die Augenbrauen. »Das begrüße ich.«

Marvin dreht sich zu mir um und tritt wieder etwas beiseite. »Wir natürlich auch. Wir klappern bloß gerne alle möglichen Ursachen ab«, verteidigt er sich.

»Einverstanden«, erwidert Jasper, auch wenn sein Blick weiterhin an mir hängt.

Wenn er tatsächlich nach einer logischen Aufklärung sucht, ist er mir gar nicht so unsympathisch. Abgesehen von seiner düsteren Aura.

»Wie genau müssen wir uns das denn mit dem ›Geistersehen‹ vorstellen?«, hake ich also nach.

Doch Jasper schüttelt den Kopf. »Konkrete Details sind mir nicht bekannt. Ich weiß nur, dass es sich um Erscheinungen handelt, die offenbar nur er sieht und sonst niemand. Es würde mich freuen, wenn ihr das zeitnah prüfen könntet.« Plötzlich holt er sein Portemonnaie heraus, was mich die Augen weiten lässt. »Natürlich ist mir bekannt, dass solche Untersuchungen und vor allem die kurzfristige Erledigung Aufwand für euch bedeuten. Daher würde ich gerne dauerhaft die Miete dieses Büros und eine monatliche Spende an den Verein übernehmen. Ich hoffe, das hier genügt als Erstzahlung.«

Abgesehen von dem leisen Knistern der Scheine, die Jasper hervorholt, herrscht plötzlich Stille im Raum. Man muss nicht unbedingt reich sein, um sich die Miete des Büros leisten zu können, aber definitiv reicher als einer von uns dreien. Und dann auch noch eine monatliche Spende? Wieso gibt er dieses Geld an eine Truppe, die er gerade erst kennengelernt hat?

»Das können wir auf keinen Fall annehmen!« Marvin hat sich als erstes aus der Starre gelöst und wedelt mit den Händen vor seinem Körper.

»Ich bestehe darauf.« Jasper reicht ihm die Scheine und mir wird schwindelig bei dem Anblick. Das ist mehr, als ich im Monat zum Leben habe.

Marvin lacht auf, doch ich höre, wie verzweifelt es klingt. »Woher hast du das ganze Geld? Und warum willst du es für unseren Verein einsetzen? Wie du weißt, arbeiten wir ehrenamtlich, also wir nehmen uns auch ohne Bezahlung deines Falls an.«

»Ich muss wegen der Spende nicht hungern.« Da Marvin offensichtlich nicht bereit ist, die Scheine anzunehmen, legt Jasper sie neben uns auf den nun freigeräumten Tisch. »Diese Angelegenheit liegt mir am Herzen und sicher gibt es eines Tages noch einmal Veranlassung dazu, dass ich eure Hilfe in Anspruch nehmen muss. Manus manum lavat, wie man so schön sagt.«

Ich runzle die Stirn. Niemand sagt das. Ich weiß nicht einmal, was das bedeutet. Ist das Latein?

»Eine Hand wäscht die andere«, erklärt er, meinen irritierten Blick offenbar auffangend.

»Wir können das nicht annehmen«, wiederholt Marvin jedoch. »Nichts für ungut, das ist ein wahnsinnig großzügiges Angebot …« Er deutet eine Verneigung an. »Aber es fühlt sich an, als würdest du meinen Verein aufkaufen.«

»Ich benötige eure Expertise, nicht euren Namen.«

»Also kaufst du uns?«, wirft Timea ein.

»Ich denke nicht, dass das möglich ist.« Sein Lächeln verrät, dass er es tun würde, wenn er könnte.

Mein Blick wandert zurück zu den Scheinen auf dem Tisch. Es ist eine wahnsinnig großzügige Spende, doch hätten wir sie abgelehnt, wenn sie anonym auf unserem Vereinskonto gelandet wäre? Sicher nicht. Es fühlt sich merkwürdig an, diesen Batzen Geld anzunehmen, aber es sichert das Überleben des Vereins. Die Spende ermöglicht es uns, weiteren Menschen zu helfen, insbesondere jenen wie der älteren Dame heute Nachmittag, die nicht das Geld haben, um uns und die Arbeit bei ihnen zu finanzieren.

Außerdem ist nicht sicher, ob er wirklich dauerhaft unsere Miete übernimmt oder er nur so große Ambitionen hat wie viele unserer vergangenen Auftraggeber. Eine einmalige Zahlung, ihrer großen Dankbarkeit geschuldet, und einen Monat später sind wir vergessen. Wir sollten das Geld nehmen, solange wir es bekommen.

Also greife ich nach den Scheinen und verschließe sie im Tresor. »Dann sagen wir mal lieb danke.«

»Ilona!«, fährt Marvin mich an.

»Was willst du sonst mit dem Geld tun? Jasper sieht nicht so aus, als würde er es zurücknehmen.« Ich deute auf den Mann mit der düsteren Aura, der ein Nicken andeutet. »Wenn du es auf dem Flur verteilen möchtest, tue das, aber dann zahlst du mehr als die nächste Tankladung.«

Marvin seufzt, doch antwortet nicht mehr.

»Wie schnell kann ich mit dem Start der Untersuchungen rechnen?«, hakt Jasper nun nach.

Ich lächle. »Sofort.« Sein Gesichtsausdruck vermittelt mir Überraschung, bevor ich mich zu den Geschwistern umdrehe. »Könnt ihr bitte eben seine Daten aufnehmen? Ich packe in der Zeit das Erstequipment zusammen.«

Doch die beiden reißen nur die Augen auf. »Du willst da heute noch hin?«, fragt Timea, während ich die Sporttaschen umräume.

»Klar, warum nicht?« Wegen meiner Müdigkeit, antwortet ein Teil in mir, doch ich ignoriere ihn. »Ich werde wenigstens die Erstinspektion durchführen. Immerhin geht es um einen Minderjährigen und vielleicht lässt sich das Problem ja ganz leicht aufklären.« Wir hatten noch nie einen Fall, der sich »ganz leicht aufklären« ließ. Aber sollte ich diesen ausnahmsweise sofort gelöst bekommen, habe ich das Wochenende frei, und das begrüßt meine Müdigkeit wiederum sehr.

Marvin verzieht die Lippen. »Ich würde ja mitkommen, aber ich hatte meinem Freund schon zugesagt, dass wir heute Abend die neue Folge von den Ghosttampers auf YouTube schauen.«

Ich unterdrücke ein Kopfschütteln. Dass Marvin immer noch hinter dieser sensationssüchtigen Geisterjäger-Truppe her ist, von denen seit Jahren bekannt ist, dass sie die aufgenommenen Phänomene fälschen …

»Ich weiß, das klingt nicht so wichtig, aber er wartet schon ewig drauf und …«

Ich wimmle ab. »Schon in Ordnung. Ich sammle erst einmal Informationen, das kriege ich allein hin.«

Timea blickt mich durch verkniffene Augen an. »Dann ist es nicht so dramatisch, wenn ich auch nicht dabei bin, oder? Nach dem heutigen Tag muss ich meine Energien wieder aufladen, sonst bin ich keine große Hilfe.«

Ich lächle. »Schon gut, ruhe dich aus. Ich melde mich, wenn ich Details habe.«

Plötzlich wendet Jasper ein: »Ich werde dich begleiten.«

Ich runzle die Stirn. »Eine Adresse würde mir reichen.«

Doch er schüttelt den Kopf. »Ich bestehe darauf, während der gesamten Untersuchung dabei zu sein.«

»Okay, aber wir wissen noch nicht, wie lange es dauert und …«

»Ich bin so lange dabei wie ihr«, unterbricht er mich.

Ich murre und ziehe die Autoschlüssel vom Tisch. Dann deute ich mit der Spitze auf ihn. »Du bist aber kein Triebtäter, der mich mit meinem eigenen Wagen kidnappt und am Waldrand sonst was mit mir anstellt, oder?«

Ein beinahe mystischer Schatten zieht über Jaspers Gesicht, der in so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln mündet. »Würde mein ›Nein‹ dich denn beruhigen?«

Ich schaue zu Marvin hinüber, der gerade ein Formular ausheftet. »Lass dir seinen Ausweis zeigen.«

Marvins Kinnlade klappt herab. »Du meinst das ernst?«

»Absolut. Wenn ihr morgen nichts mehr von mir hört, müsst ihr wissen, wen ihr an die Polizei melden müsst.« Ich fixiere Jasper, der die Szene jedoch voller Neugierde zu verfolgen scheint.

»Jasper Noire, ist notiert«, antwortet Marvin mit überspitztem Ton und schiebt Jasper das Formular hinüber, während ich mit einer Tasche an Erstequipment wieder hinauf zum Wagen verschwinde.

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